Scheuen wir das Risiko? Sorgen wir uns zu viel? Sind wir gar mutlos? Mehr über unser Risikoverhalten zu erfahren, ist spannend. Bereits vor bald 30 Jahren plädierte Ulrich Beck für den Begriff „Risikogesellschaft“ unserer Zeit im Sinne einer Ablösung der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, die ihrerseits damals auf die Agrargesellschaft gefolgt war. Unter Risiken verstand Beck u.a. auch soziale Gefährdungslagen wie Arbeitslosigkeit. Dabei diagnostizierte er, dass weniger die abstrakten Risiken als bedrohlich wahrgenommen würden, als deren konkrete Thematisierung durch die Massenmedien.
Wovor fürchten wir uns denn am meisten?
Global Risk Report (World Economic Forum WEF, weforum.org)
Über 1000 Experten aus Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung und Wissenschaft bewerten 50 globale Risiken danach, wie sie die Welt in nächster Zeit beeinflussen könnten. Studiert man „Global Risks 2013“, ist doch, neben Erwartetem, auch Verwunderliches festzustellen. Zuoberst auf der Liste der Bedrohungen, die am ehesten eintreten und Schaden verursachen könnten, stehen:
- Massive Einkommensunterschiede
- Längerfristig unausgeglichene Staatshaushalte
- Anstieg der Treibhausgas-Emissionen.
Vorab, und für mich auffällig, warum werden massive Einkommensunterschiede an erster Stelle genannt? Welche Bedrohung geht denn davon aus? Meine persönliche Interpretation: Wenn einzelne Global CEOs und Verwaltungsräte die Bodenhaftung verlieren und mit ihren unanständig hohen Bezügen abheben, fördert das eine langsame, gefährliche Entwicklung im Volk. Gerade in der Schweiz mit ihrem direktdemokratischen System ist eine schleichende Entsolidarisierung zwischen Bevölkerung/Arbeitnehmer und Topmanagement nicht ohne Auswirkungen an der Urne. Die Auswüchse des Neoliberalismus sollen mit vermehrter Reglementierung bekämpft werden, dabei laufen wir Gefahr, übers Ziel hinauszuschiessen und die Basis unseres Wohlstandes selbst zu gefährden: Das freie Unternehmertum, das seit je und per Definition eine grosse Risikofreude als Motivator kennt. Damit mutieren die selbsternannten Übermenschen in den globalen Chefetagen mit ihrer selektiven Wahrnehmungsfähigkeit tatsächlich mittelfristig zu einer ernsthaften Bedrohung, deren Kollateralschaden beträchtlich ist.
Die Rangliste unterscheidet fünf Kategorien von Schäden: Wirtschaftliche, geopolitische, gesellschaftliche, technologische und Umweltrisiken. Addiert man die 50 grössten Schadenpotenziale innerhalb dieser Risikogruppen auf (dies ist meine persönliche Analyse und nicht die WEF-Meinung), steht an erster Stelle der Bedrohung die Wirtschaft (Finanzsystem + Staatshaushalte), an zweiter die Umwelt (Wasserversorgung und Klimawandel), an dritter Technologie (Krieg). Da die Politik nicht explizit erhoben, sondern der Wirtschaft zugeordnet wird, ist diese Rangierung verständlich. Würde man allerdings Politik als Einzelkriterium erfassen, läge diese an erster Stelle (Unausgeglichene Staatshaushalte, Volatilität der staatlich beeinflussten Energie- und Landwirtschaftspreise, Schwellenländer, Liquiditätskrisen).
Konzentriert man sich nur auf die 25 grössten Schadenpotenziale stehen klar die Umweltrisiken zuoberst (Anstieg der Treibhausgasemissionen, Scheitern der Anpassung an den Klimawandel, anhaltendes extremes Wetter, unkontrollierbare Urbanisierung, Artensterben, Misswirtschaft in der Boden- und Gewässernutzung). So betrachtet, stellt sich die Frage, ob wir ab und zu in der persönlichen Risikobewertung etwas ausblenden?
CS Sorgenbarometer Schweiz
Die CS untersucht jedes Jahr mit ihrem „Sorgenbarometer“ die Befindlichkeit der Schweizer Bevölkerung. Seit nunmehr 10 Jahren in Folge bleiben die Hauptsorgen die Arbeitslosigkeit, gefolgt von der Altersvorsorge/AHV. (2012 rückte das Problem Ausländer/Personenfreizügigkeit ex aequo auf Platz zwei). Die Autoren deuten das so: „Die Beschäftigung und die Vorsorge werden als Schlüsselfaktoren für das Funktionieren des Landes angesehen“. Gleichzeitig wird die Wirtschaftslage jedoch als sehr gut eingestuft. Deutet das in Richtung Sorgen auf Vorrat – Vorsorge eben? Oder wird hierzulande die Zukunft ganz generell als grosses Risiko eingestuft? Hallt gar unausgesprochen der Ratschlag unserer Grosseltern aus der Mitte des letzten Jahrhunderts nach: Sorge in der Zeit, so hast du in der Not? Wäre ja durchaus positiv zu beurteilen.
Angesichts der bedrückenden (Jugend-) Arbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas, können wir aber nachvollziehen, wie es jenen Betroffenen momentan zumute ist?
Gefragt, welches wichtigsten Ziele unsere Politiker anzupeilen hätten, steht folgerichtig: Die langfristige finanzielle Sicherung der Vorsorgeeinrichtungen.
Gesundheitsrisiken
Interessant ist der weltweite Risiken-Vergleich „Global Burden of Disease“ über einen Zeitraum von 20 Jahren, wie ihn die ZEIT (7.2.2013) publizierte. Aufgrund von 53 Millionen Todesfällen des Jahres 2010 waren die fünf wichtigsten Gesundheitsrisiken 1990:
- Untergewicht bei der Geburt
- Umweltverschmutzung im Haushalt
- Rauchen
- Bluthochdruck
- Stillprobleme
und 2010:
- Bluthochdruck
- Rauchen
- Alkoholmissbrauch
- Umweltverschmutzung im Haushalt
- Vitaminarme Ernährung.
Konklusion: Die Bevölkerung ist in der Zwischenzeit deutlich gesünder geworden. Infektionskrankheiten wurden zurückgedrängt, dafür sterben mehr Menschen an Altersgebrechen und (auch selbstverschuldeten) Zivilisationsleiden.
Faustregeln zur persönlichen Risikobewältigung
Wir leben in einer Welt der Ungewissheit und des Risikos und machen uns oft Sorgen über die Zukunft. Allerdings – vergessen wir nicht, dass beides in früheren Jahrhunderten wohl hautnaher empfunden werden musste und einiges existenzbedrohender sein konnte. Der Versuch, in dieses Gebiet etwas Licht hineinzubringen, ist entspannend. Wenn wir schon nicht genau wissen, welche Risiken uns zukünftig bedrohen werden, warum nicht seine eigene Risikokompetenz stärken?
In seinem Buch „Risiko“ gibt der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, einige nützliche Ratschläge. Vorab: Die Illusion der Gewissheit – also einer vermeintlichen Sicherheit – sollten wir entsorgen. Die altmodischen Wahrsager haben zwar mittlerweile ausgedient (haben sie? Horoskop-Ecken überall…), doch jetzt laufen wir Gefahr, moderne „Glaubenssysteme“ zu überbewerten. Denn seit eindrückliche Computerprogramme übernommen haben, vertrauen wir plötzlich deren Auftraggebern: Ärzten, Politikern, Bankern, Wetterstationen und Medien, die sich darauf berufen. Als Beispiel werden die Voraussagen von Bankanalysten und Vermögensverwaltern 2005 für Aktien- und Wechselkurse auf 12 Monate hinaus untersucht. Das Fazit: „Credit Suisse, die Bank mit den besten Voraussagen für Aktien, gab eine der schlechtesten Prognosen über den Wechselkurs ab und UBS, die Bank mit einer der schlechtesten Vorhersagen für Aktien, lieferte die beste Prognose zum Wechselkurs. Die Treffgenauigkeit beider Voraussagen war erschreckend schlecht.“
Generell plädiert Gigerenzer dafür, seine persönliche Risikokompetenz durch folgende, einfache Regel zu stärken: Die wichtigste: Beachte die eigene Intuition – dein Bauchgefühl. „Ein Bauchgefühl ist weder eine Laune noch ein sechster Sinn noch Hellseherei noch Gottes Stimme. Es ist eine Form unbewusster Intelligenz. Die Annahme, Intelligenz sei notwendigerweise bewusst und überlegt, ist ein Riesenirrtum. Die meisten Regionen unseres Gehirn sind unbewusst und wir wären wohl verloren, ohne den dort gespeicherten immensen Bestand an Erfahrung.“ Über diesbezügliche Missverständnisse meint der Autor, dass Intuition keineswegs das Gegenteil von Rationalität wäre. „Wir brauchen sowohl Intuition, als auch Denken, um rational zu sein.“
Noch immer finden sich in einigen Lehrbüchern der Verhaltensökonomie und der Sozialpsychologie folgende drei Irrtümer: Intuition ist zweitklassig und bewusstes Abwägen immer besser. Komplexe Probleme erfordern immer komplexe Lösungen. Mehr Informationen, mehr Berechnungen und mehr Zeit sind immer besser. Weniger könnte mehr sein, ist man versucht zu denken.
Sicherheit vor allem
Die Eingangsfrage, ob Schweizerinnen und Schweizer risikofeindlich, tendenziell sorgenvoll oder gar mutlos wären, ist persönlich zu beantworten. In diesem Zusammenhang sei nicht verheimlicht, dass in der oben erwähnten CS-Studie auf die Frage: „Sagen Sie mir bitte drei Dinge, wofür die Schweiz für Sie persönlich steht?“, an erster Stelle steht: Sicherheit/Frieden. Dies mag miterklären, weshalb gewisse politische Kreise seit Jahrzehnten damit punkten, unermüdlich für „Sicherheit für alle“ zu kämpfen. Auch wenn dieses Ziel in Zeiten der Risikogesellschaft ein etwas nebulöser und risikobehafteter Begriff bleibt.