„Liberté, Egalité, Fraternité“ („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) – die französische Staatsformel schlechthin - ist spätestens seit der Französischen Revolution ein universaler Begriff, eng assoziiert mit der Aufklärung. „Sapere aude!“ („Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) wurde von Kant vor 230 Jahren zum Leitspruch dieser Aufklärung erhoben. Doch schon lange vorher suggerierte der römische Dichter und Philosoph Horaz seinem Publikum diese Devise - vor ca. 2000 Jahren.
„Sapere aude!“ ist auch in den turbulenten Zeiten der IT-Revolution, Globalisierung und des chauvinistischen Patriotismus eine nützliche Aufforderung. Und, um dem Zeitenwandel gerecht zu werden: „Autonomie, Ungleichheit, Geschwisterlichkeit“ müssten die Themen, die uns bewegen, im Moment wohl heissen.
Der Drang nach mehr Autonomie
Auffallend ist die gegenwärtige Tendenz vieler Bevölkerungsgruppen, sich aus der negativ empfundenen Umklammerung eines grösseren Staatengebildes lösen zu wollen. Schottland, Katalonien, das Baskenland, die Flamen in Belgien – überall machen „Separatisten“ von sich reden. Selbst im grösseren EU-Gebilde kracht es: Besonders aus Grossbritannien kommen harsche Töne: Cameron droht gar mit einem Austritt, sollte Brüssel nicht auf die englische Interpretation der Zuwanderungsdefinition einschwenken. Und natürlich die autonome Schweiz; hierzulande fühlen sich viele umklammert, ja bedroht von der EU, dem Friedensprojekt, dem wir so viel zu verdanken haben.
Tatsächlich beinhaltet der Begriff Freiheit ja hart erkämpfte Rechte wie Selbstbestimmung, Selbständigkeit, Unabhängigkeit, auch Selbstverwaltung. Je mehr das einzelne Individuum diese Errungenschaften als Selbstverständlichkeit wahrnimmt und sie quasi als garantiertes Menschenrecht voraussetzt, desto egoistischer, unnachgiebiger und intoleranter wird seine Haltung, so scheint es.
In diesem Moment ist das Feld vorbereitet, umgepflügt zu werden. Plötzlich werden Diktate von „oben“, fremde Richter, Bedrohungen des eigenen Wohlstands und … „Ungleichheit“ empfunden, suggeriert – als Ungehörigkeit gebrandmarkt.
Freiheit bedeutet auch Selbstverantwortung
Die oben aufgeführten Rechte sind in der Schweiz so selbstverständlich geworden, dass die dazugehörenden Pflichten Gefahr laufen, etwas in Vergessenheit zu geraten. Dieser Trend ist kein guter. Der Einzelne mag den Wert und Nutzen, den er aus der erprobten und bewährten freiheitlichen Demokratie zieht, sicher zu schätzen wissen. Realisiert er/sie auch, dass dieser payback das Resultat eines investments ist, das nicht über den Vermögensverwalter, nicht in Franken, Euro oder Dollar abgewickelt wird?
Diese persönliche Investition kann aus dem aktiven Engagement für die Allgemeinheit, für das basisdemokratische, lokale Politikgefäss, das Militär, die Feuerwehr, den behinderten Nachbarn oder die betagte Nachbarin bestehen. Die gewinnbringende „Kapitalanlage“ umfasst auch das mentale sich Auseinandersetzen mit Hintergründen und Zusammenhängen der politischen Grosswetterlage. Nur wer den Durchblick wahrt, durchschaut die bewussten Ablenkungsmanöver politischer Brandstifter. Mögliche Erkenntnisse: Kritisierte Diktate von „denen da oben“ entpuppen sich als austarierte Resultate unserer gewählten Behörden. Fremde Richter sind Rechtsvertreter freiheitlichen Demokratien, die versuchen, sich gemeinsam gegen Diktaturen, Terrorstrukturen, Auflösungstendenzen zu wehren.
Mehr Schweizer Autonomie gar durch Kündigung völkerrechtlicher Verträge erreichen zu wollen, ist blanke Überheblichkeit einiger Volksverführer, die darauf aus sind, mit ihren Schalmeiengesängen die persönliche Verantwortung der Schweizer und Schweizerinnen nach ihren eigenartigen Vorstellungen zu kanalisieren.
„Ungleichheit“ - Unwort des Jahres
Ein Medienhype sondergleichen überflutet den Westen. Seit im Februar 2014 Thomas Piketty‘s Wälzer „Capital in the 21st Century“ in der englischen Übersetzung die mediengetriebene USA-Bestsellerleiter im Sauseschritt erklomm, kennt Amerika einen neuen Superstar - französischer Nationalität. Der blitzgescheite Ökonom erklärt seinem Publikum die rasant wachsende Ungleichheit in der Welt. Seine These: die oberste Schicht der Superreichen gewinnt immer mehr Kapital, Macht und Einfluss, während der Rest der Menschheit nur verliert.
Während ideologisch geprägte Kommentatoren (wie Hans Kissling im MAGAZIN) begeistert applaudieren, fragen sich neutralere Beobachter, ob Piketty‘s Theorie ganz so sauber daherkomme. Sie fragen sich insbesondere, ob Piketty „einer Versuchung nachgibt, der schon Marx nicht widerstehen konnte. Er deutet eine brillante historische Analyse in ein Entwicklungsgesetz für die Zukunft um“ (DIE ZEIT).
Tatsache ist, dass seit diesem Sommer auch hierzulande das Thema „Ungleichheit“ seitenfüllenden Anschauungsunterricht bietet, wie ein Phänomen, das die Menschheit seit langem kennt – das zu- und abnimmt je nach politischer und wirtschaftlicher Grosswetterlage – die Gemüter erhitzt. Tatsächlich erreicht diese Ungleichheit seit 1980 wieder die Höhen vor Beginn des 20. Jahrhunderts. Nichts Neues im Westen, also. „Noch nie war die Ungleichheit grösser“, lesen wir aber. Ziemlich falsch. Der Anteil der obersten zehn Prozent am Volkseinkommen steigt wieder, diese Aussage ist zwar korrekt. Beeinträchtigt dies das Wohlbefinden breiter, weniger begüterter Bevölkerungsschichten?
Der Unterschied zwischen Arm und Reich
Seit 15 Jahren forscht Piketty auf diesem Gebiet. Er ist von der Überzeugung getrieben, nichts errege die Gesellschaft mehr und dauerhafter als die Unterschiede zwischen Arm und Reich. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Was jedoch zutrifft aus seiner Diagnose: Das Kapital wächst schneller als die Volkswirtschaften dieser Welt. Das oberste Prozent der Bevölkerung in den USA erhöhte seinen Anteil am Volkseinkommen innert 30 Jahren von 9 auf 22 Prozent. Um dem entgegen zu wirken, plädiert Piketty für eine Besteuerungen von Einkommen bis zu 80% und Vermögen bis zu 10%. Dieses viel zu einfache, „französische“ Denken eines Theoretikers krankt daran, dass es nicht in Betracht zieht, wie Menschen auf solche prohibitive Abschöpfungen reagieren würden.
Auch das Argument, vererbte Vermögen lägen am Ursprung dieser Ungleichheit, ist so nicht korrekt. Gerade in den USA, wo die Unterschiede offensichtlich am grössten sind, steuern bei den 400 reichsten Amerikanern die Selfmade-Milliardäre mehr als die Hälfte dazu bei. Nicht wenige von ihnen haben in der Garage mit ihrer Businessidee begonnen.
Wohlstand schafft „Armut“
„Jeder achte Mensch ist im Alter von Armut betroffen!“ Mit diesem Aufruf bittet Pro Senecute um eine Spende. „Jede zehnte Person in der Schweiz gilt als arm!“ So lesen wir auf der Homepage von Caritas Schweiz. Mit Verlaub: Da wird aus den Zahlen der Sozialämter, der RAF (Regionale Arbeitsvermittlungszentren), der Ergänzungsleitungen ein medienwirksamer Cocktail gebraut, der Armut in der reichen Schweiz schlicht aufbauscht. Letztlich trägt unser soziales Netz Betroffene auf einem finanziellen Niveau, von dem andere Länder nicht einmal zu träumen wagen.
So stark hat man sich, vielfach unbewusst, an die schweizerische Verwöhnkultur angepasst, die der Philosoph Peter Sloterdijk „als ‚Amalgam aus kampfloser Freiheit, stressfreier Sicherheit und leistungsunabhängigem Einkommen‘ beschreibt“ (René Scheu in SCHWEIZER MONAT). Es gilt bei uns inzwischen ein relativer, schweizerischer Armutsbegriff. Er lässt sich vortrefflich für partei- und gesellschaftspolitische Forderungen missbrauchen. (Ich werde im nächsten Jahr in einer diesem Thema gewidmeten Kolumne detailliert darauf zurückkommen).
Wo bleibt die „Geschwisterlichkeit“?
Die dritte Errungenschaft, für die gekämpft wurde (Brüderlichkeit), in Zeiten der Frauensolidarität entsprechend umbenannt, bezeichnet im weitesten Sinne das soziale Verhalten in unserer Zivilgesellschaft. Die Gleichberechtigung der Menschen und deren freiwilliger Zusammenschluss sind gemeint. Die einstige französische Kampfparole ist auch gegenwärtig aktuell: Die Gleichstellung von Mann und Frau etwa ist ihr erklärtes und längst überfälliges Ziel.
Doch selbst diese menschliche Errungenschaft gerät unter Druck. Das Zusammenleben von Menschen auf scheinbar immer engerem Raum führt in der Schweiz zu „Dichte-Stress“, Abwehrreaktionen. Das soziale Handeln, der soziale Gedanken in der Wohlfahrt als Zeichen vermehrten Wohlstands, beides wird hinterfragt, schlecht geredet, in Misskredit gebracht. Eine diffuse Verlustangst beeinflusst das Verhalten. Die Wohlstandsgenerationen fühlen sich bedroht.
Unter „Brüderlichkeit“ verstand man früher auch assoziierte Werte wie Humanität, Barmherzigkeit, Mitgefühl für Menschen in Not. Wo die Gleichberechtigung zur Selbstverständlichkeit geworden ist (in der Schweiz z.B. im Stimm- und Wahlrecht), laufen solche Ideen Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Sogar Pazifismus wird im weitesten Sinn zu den Attributen der Brüderlichkeit gezählt. Zeitgemässer formuliert könnte das so umschrieben werden: Konflikte vermeiden statt schüren, bewaffnete Konflikte strikt ablehnen. Eskalierende Konflikte entstehen im Kleinen und enden oft in Kriegen.
Wir leben in unruhigen Zeiten. Deshalb ist die Aufforderung „Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ mehr als ein zweitausend Jahre alter Aufruf. Er setzt Mut voraus. Mut, persönliche Unabhängigkeit, eigenständiges Denken und Analysieren, engagierte Solidarität.