Seit Friedrich Schillers Wilhelm Tell gilt dieses Drama als immerwährendes Mahnmal der Unabhängigkeit der Alten Eidgenossenschaft von den Habsburgern. Das Telldenkmal in Altdorf "verkörpert" für immer und ewig den heroischen Nationalhelden. In Bronze gegossen. Seit Jahrhunderten zum helvetischen Mythos geformt. Im 21. Jahrhundert erlebt dieser eine weitere geschichtliche Umdeutung. Im Grossen: Unabhängigkeit unseres kleinen Landes von den Vögten in Brüssel. Im Kleinen: z.B. Unabhängigkeit des schweizerischen Bankgeheimnisses von ausländischen Mächten, die es auf das hier gebunkerte Geld aus der ganzen Welt abgesehen haben.
Mythen werden weltweit bemüht, um vergangenheitsverklärte Bilder in den Köpfen der Menschheit entstehen zu lassen. Genau so in der Schweiz: Die Berufung auf schweizerische Mythen dient einer ganzen Volkspartei als Legitimation ihres Programms. Natürlich hat das zur Folge, dass damit die Zukunfts-Ausrichtung auf die Vergangenheit fokussiert ist. Man schreitet rückwärts blickend in die Zukunft. Anders gesagt, Menschen, die in der Vergangenheit suchen, was ihnen in der Gegenwart fehlt, instrumentalisieren mit Vorliebe Mythen. Daraus könnte man folgern: Wem im heute nichts fehlt, muss auch nicht in der Vergangenheit suchen. Er braucht die verklärten Mythen nicht, um im Alltag zu bestehen. Und schon gar nicht, um die grossen, zukünftigen Probleme zu meistern.
Über Jahrhunderte hinweg lösten und lösen Mythen in uns Emotionen aus. Die Rütli-Wiese zum Beispiel wird instrumentalisiert zur Beschwörung der Unabhängigkeit der Schweiz; die Reduit-Idee und die Anbau-Schlacht aus dem Zweiten Weltkrieg gelten als Widerstands-Sinnbilder des wehrhaften Landes in den Alpen. Allen Mythen gemeinsam ist der Legenden-Charakter: So genau wissen wir nicht, wie es war und umso überzeugter glauben wir, dass es wahr sei. Die ältesten griechischen Mythen wurden über Jahrhunderte mündlich überliefert, modifiziert, interpretiert. Nicht selten beinhalten solche Mythen Vorbilder menschlich hervorragenden Verhaltens – und die Sehnsucht nach starken Führer-Gestalten.
Die Entmystifizierung helvetischer Mythen ist schier unmöglich – sie ist wohl auch gar nicht nötig. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang eine neue, moderne Entwicklung. Wie oben gezeigt, erzeugen Mythen Bilder in unseren Köpfen. Bilder sind stärker als Worte, sie wirken auf unsere Emotionen direkter, ja, Neurobiologen gehen gar davon aus, dass Gefühle unsere Vernunft gewissermassen steuern. Das Fernsehen als Freizeitbeschäftigung Nr. 1 generiert Bilder en masse und längst haben findige Politiker die Berieselung der Massen mit von ihnen gesteuerten Botschaften zur Meinungs-Beeinflussung genutzt. Jahre der gezielten Falschinformation der Bush-Administration zementierten in den Köpfen vieler Amerikaner zum Beispiel den Glauben an die Wahrheit des Besitzes von Massenvernichtungswaffen des Iraks. Hier schliesst sich der Kreis: Mythen, Glauben, Beeinflussen führen zu Verunsicherung und Angst, eigenständiges, vernunftgesteuertes Denken wird ins Abseits gedrängt.
Zusammengefasst: Mit Mythen, respektive der Drohung des Verlustes mythenhaft belegter Schweizer Qualitäten, kann Angst erzeugt werden. Dies wiederum fördert den Ruf nach starken Führern mit einfachen Lösungsvorschlägen für alle Probleme. In Europa ist das staatliche Fernsehen in Italien fest in der Hand Berlusconis, des Ministerpräsidenten. In der Schweiz gibt es Blocher-TV. Nicht vergleichbar? Natürlich nicht!