Als ich vor 14 Jahren mit Journalisten über mein erstes Buch* diskutierte, begegnete ich weitverbreitetem Unverständnis. „Transparenz als Schlüssel zur Moderne“, was soll das? Das interessiert keinen Menschen, bekam ich zu hören. Heute ist „Transparenz“ auf dem Google-Alert der deutschsprachigen Medien eines der ergiebigsten Suchergebnisse. Nicht überraschend.
Die Durchsichtigkeit des Informations-Zeitalters
Seit Beginn des dritten Jahrtausends sind wir Zeugen eines gewaltigen Umbruchs. Im Kielwasser der IT-Revolution sehen wir alte Gewohnheiten, bewährte Rezepte, erfolgreiche Strategien durcheinandergewirbelt. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen werden vom Wellenschlag auseinandergerissen. Manifestationen der neuen Zeit zeigen sich im Westen u.a. darin, dass es kein Wissens- und Informationsmonopol mehr gibt, dass politische und kirchliche Bevormundung abgelehnt wird, dass Kartelle und Preisabsprachen verboten werden, dass Steuerhinterziehung nicht mehr als Kavaliersdelikt betrachtet wird. Auch Bank- und andere Geheimnisse werden an die Öffentlichkeit gezerrt, der Begriff des Whistleblowers macht Karriere.
Jene, die das nicht so toll finden oder deren Geschäftsmodell unter dieser Entwicklung leidet, wehren sich vergeblich. Globalisierung und BIG DATA machen an keiner Landesgrenze Halt. Auf der anderen Seite freuen sich Bürgerinnen und Bürger über eine Transparenz, die einstmals Verborgenes, Verdecktes, Korruptes ans Tageslicht befördert.
Zwei Seiten der Transparenz- und Whistleblower-Medaille
Wenn Missstände an die Öffentlichkeit gelangen oder Unrecht aufgedeckt wird, und letztlich die Gesellschaft dabei gewinnt (wenn also die Allgemeininteressen über die Individualinteressen von Unternehmen, Politikern und Einzelpersonen gesetzt werden), ist das ein Fortschritt. Werden dagegen unrechtmässig Daten gestohlen, verkauft und damit der Staat oder die Sicherheit geschädigt und die Gesellschaft verliert dadurch (resp. die Individual- werden über die Allgemeininteressen gestellt), ist dies eine problematische Entwicklung. Das Beispiel Edward Snowden (USA) zeigt, dass dieser zweite Fall durchaus ambivalent beurteilt werden kann. Andererseits gehört Bradley Birkenfeld (UBS) zur ersten Kategorie, doch auch da ist die Beurteilung ambivalent. Zuerst sass er 31 Monate im Knast, dann erhielt er als Belohnung 104 Mio. Dollar…
Neue internationale Steuertransparenz
Grosse international tätige Konzerne verstecken mittels intransparenter Konstrukte Milliarden Dollar in Steueroasen, um Steuern zu verringern, zu umgehen oder möglichst zu vermeiden. Nach (noch) gültigem Recht ist dies zulässig, legal also. Nun hat jedoch ein weiteres Datenleak („Luxemburg-Leak“) weltweit für Empörung und Unverständnis geführt. Die Gesellschaft realisiert, dass sich da eine frappante Ungleichheit breit gemacht hat. Zukünftig wollen die 20 grössten Industrie- und Schwellenländer (G-20) mittels internationalem Steuerregime diese Multis ins Visier nehmen. Zudem wirken die OECD, die EU und die USA darauf hin, dass die grössten Wirtschaftsplayers dort Steuern bezahlen müssen, wo der Gewinn anfällt.
Transparenz – made in Switzerland
Offensichtlich tun sich viele Menschen in diesem Land schwer beim Gedanken an eine transparentere Welt. Zu schwer wiegen Vermächtnisse wie Amts- und Bankgeheimnis.
Langsam aber sicher ändert sich auch bei uns etwas. Das Öffentlichkeitsprinzip hat in der Schweiz das sture, verstaubte Amtsgeheimnis abgelöst. Prinzipiell ist alles öffentlich zugänglich aus den Amts- und Ratsstuben, sofern es nicht aus Sicherheitsgründen ausgenommen wird. Das Bankgeheimnis („an dem werden sie sich die Zähne ausbeissen!“ beschwor noch vor wenigen Jahren ein Bundesrat) erodiert und wird zum kontraproduktiven Relikt. „Swissleaks“ ist nur das neueste Glied in einer immer länger werdenden Kette von „Gentleman-Delikten“ aus unserer Banken-Schattenwelt. Bereits zeichnet sich ab, dass auch der Verzicht aufs Bankgeheimnis für inländische Steuerpflichtige Tatsache werden dürfte. Die volle Steuertransparenz wird zum Standard.
Intransparenz, Relikt der letzten Jahrhunderte
Eines der ärgerlichsten Schrottstücke vergangener Wertigkeit ist die intransparente Finanzierung unserer politischen Parteien und Abstimmungskampagnen. Dass man mit Geld Wahl- und Abstimmungskämpfe beeinflussen, mit viel Geld sogar gewinnen kann, ist bekannt. Dass diese Geldflüsse nach Meinung des Bundesrats und Parlaments auch in Zukunft geheim bleiben sollen, ist fatal. Nicht nur für den Europarat, vor allem für engagierte Schweizerinnen und Schweizer.
Dass die NZZ seit Monaten eine breite Kampagne gegen berechtigte, gesellschaftlich breit abgestützte Transparenzanliegen (Parteienfinanzierung, automatischer Informationsaustausch) fährt, ist ihr gutes Recht. „Das ewige Lamento über käufliche Politik und fehlende Transparenz in Abstimmungskämpfen ermüdet“ oder „Wie die Schweiz in den Konflikt über die Parteienfinanzierung hineingesteuert ist“, lauten etwa die Titel. Die Folgerung, diese Bemühungen würden „aber kaum zu mehr Steuerehrlichkeit führen“ – ein wahrlich abenteuerliches Denken. Da darf mit Fug und Recht die Frage gestellt werden, wie und warum in aller Welt man die Idee der Steuerhinterziehung als ein liberales Prinzip verteidigen muss („Liberale Distanz gegenüber naiver Euphorie“).
Liberales Staatsverständnis?
Dies führt letztlich zur Frage, wie sich der Staat und seine Bürgerinnen und Bürger im Zeitalter der Transparenz mit den neuen Realitäten vernünftig arrangieren können. Es geht dabei weniger um den Entscheid zwischen „Freigeistig statt obrigkeitsgläubig“ (NZZ), also darum, vor staatlichen Eingriffen als Zudringlichkeiten zu warnen, und dem Versuch, Politik (direkte Demokratie) und Wirtschaft auf ein erspriessliches Fundament zu stellen. Liberal per Definition, also die Idee, dem Einzelnen möglichst wenige Einschränkungen aufzuerlegen, ist unbestritten ein hohes Gut. Ebenso gültig ist jedoch die alte Einschränkung: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die des Andern beginnt.“
Wenn heute weltweit staatliche Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit gefordert werden, dann wohl vor allem darum, weil der Einzelne (das einzelne Unternehmen) zu offensichtlich gegen die begründeten Ansprüche der Gesellschaft verstösst.
So plädiert Bruno S. Frey, emeritierter Professor an verschiedenen Universitäten, dafür, die politischen Spielregeln zu überprüfen. Damit meint er u.a. eben auch „ein dringendes Bedürfnis ist die Offenlegung der Finanzierung von Abstimmungskampagnen“.
Die Glaskugel-Gesellschaft
„Die fragile Glaskugel als Signatur einer transparenten, globalisierten und selbstverantwortlichen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht für die vom All her gesehene Erdkugel von verletzlicher Schönheit und zerbrechlichem Gleichgewicht, von endlicher Grösse, aber ohne Grenzen. Die rotierende Glaskugel symbolisiert gleichzeitig das integrale Zukunftsbild: Kein dualistisches Links oder Rechts, Oben oder Unten, sondern ein ganzheitlich wahrgenommenes, durchsichtiges Ganzes, das in einem nachhaltigen Netzwerk Natur und Mensch den Durchblick wahrt“ (www.glaskugel-gesellschaft.ch).
Diese Definition, als persönliches Symbol der Moderne, habe ich vor 14 Jahren geprägt, in Anlehnung an die Gedanken des Kulturphilosophen Jean Gebser (jean-gebser-gesellschaft.ch). Es scheint mir angebracht, neben der politischen und ökonomischen Annäherung an das Zeitphänomen Transparenz auch diesen eindrücklichen Denker in Erinnerung zu rufen. Indem er – vor 65 Jahren - Rückschau hielt über die Jahrtausende („Ursprung und Gegenwart“), und dabei die Menschheitsepochen strukturierte, hat er viel zum Verständnis unserer Zeit beigetragen.
Geradezu frappant mutet sein visionärer Blick in die Zukunft an. Ohne auch nur von IT und BIG DATA zu träumen, beschrieb er die neue Zeit, deren wichtigstes Thema … die Zeit selbst sein werde. Von der Gleichzeitigkeit unserer Internet- und Social Media-Welt konnte er nichts ahnen. Dennoch sprach er vom „Durchblicken“ der Vorgänge, von einem integralen Verarbeiten, einem umfassenden Verstehen. Auch für die Globalisierung fand er seine ankündigenden Worte: Indem die Technik „den Raum immer mehr zusammenschrumpfen lässt...“.
Gebser war davon überzeugt, dass immer dann, wenn die herrschende Bewusstseinsstruktur zur Welt- und Problembewältigung nicht mehr ausreiche, eine „Mutation“ (so seine Definition) der Menschheit heranwachse. Dazu schrieb er, „dass ein jeweilig Unerfahrbares erfahrbar, ein Unvorstellbares vorstellbar, ein Undenkbares denkbar werde“. Sein Vision umfasst zudem eine erweiterte Denkkompetenz mit der Überwindung der rationalen Fixiertheit. Zudem plädierte er für eine „vierdimensionale“ Betrachtungsweise. Damit meinte er die Abkehr vom perspektivischen, fixierten Standpunkt und Blickwinkel zu einem „aperspektivischen“, unter gleichzeitigem Einbezug alternierender Ausgangspunkte.
Transparenz als Schlüssel zur Moderne
Die neue Transparenz ist also eine unvermeidbare Folge der IT-Revolution. Der „Gläserne Bürger“ erhält eine eigenartige Aktualität. Die Social Media-Welt zeigt jedoch, dass deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst aktiv an der Brisanz dieses Wandels mitwirken.
Eine gute, alte Schweizer Stärke ist jene, auf neue Ausgangslagen mit gesteigerten Anstrengungen, Flexibilität und Innovationen zu reagieren. Was nicht zu ändern ist, soll nicht beklagt oder bekämpft, sondern in der persönlichen Agenda integriert werden.
Ähnlicher Artikel:
> „Transparenz als System“, 14.6.2013
*Christoph Zollinger: „Die Glaskugel-Gesellschaft – Transparenz als Schlüssel zur Moderne“, (2002).