Die Europäische Union, der Staatenverbund von 27 europäischen Mitgliedländern, wird durchgeschüttelt. Kritik hagelt es aus den USA, von frustrierten EU-Bürgerinnen und Bürgern in Griechenland, Italien, Grossbritannien, Deutschland. Und natürlich aus der Schweiz. Fundierte Kritik ist angebracht. Deshalb lohnt sich der Versuch, verstehen zu wollen, wo – und wo nicht.
Die Wut über die EU, was versteckt sich dahinter? Systemmängel, Missverständnisse? Missverstehen wollen als Strategie? Jener Strategen, die nationale Ressentiments schüren. Jener Schönmaler der nationalen Mythen, die nicht – oder schlimmer: gar nie – begriffen haben, worum es bei der EU geht.
EU-Organisation und ihre Ziele
Legislative: Europäisches Parlament (CH: Nationalrat) + Rat der Europäischen Union (CH: Ständerat). Die 754, resp. 27 Mitglieder werden in ihren Ländern gewählt. Exekutive: Europäische Kommission (CH: Bundesrat). Die 27 Kommissäre sind nicht gewählt, sondern „entsandt“.
Judikative: Europäischer Gerichtshof (CH: Bundesgericht).
Damit hören die Vergleichbarkeiten zu nationalen Demokratiestrukturen auf. Natürlich fehlt in der Aufzählung der Europäische Rat, zusammengesetzt aus den Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten. Wie wir wissen, entscheiden sie letztlich und stehen somit über der Exekutive. Ob da auch schon die institutionellen Schwierigkeiten beginnen, bleibe vorerst unbeantwortet.
Die Ziele der EU sind einerseits, den Frieden (dafür erhielt sie 2012 den Friedensnobelpreis), ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern; andererseits, die wirtschaftliche und politische Partnerschaft untereinander zu vertiefen. Daneben werden noch eine Reihe besonderer Ziele stipuliert.
Systemmängel
Seit es gefährlich knirscht in der EU zeigt es sich, dass die Mitglieder des Europäischen Rats in ihrer Doppelrolle als nationale Regierungschefs und „VR“-Mitglieder der EU überfordert sind. Offensichtlich (aber nicht offiziell) ist die Verteidigung der jeweiligen nationalen Interessen vorrangig gegenüber effizienten Massnahmen und pragmatischer Zielforderung innerhalb der EU. Diese Krux fördert kontraproduktive, kurzsichtige Entscheidungen. Am liebsten werden solche, wortreich verklausuliert, vorerst einmal auf später verschoben.
Der Maskenball der Europäischen Regierungschefs
Diese oft schwer durchschaubare Prioritätensetzung schwächt die Legislative und Exekutive der EU. Auf dem Maskenball der Europäischen Regierungschefs (Europäischer Rat) bleiben die wahren Handlungsgründe unsichtbar hinter aufgesetzten Deklamationen an den Medienkonferenzen - wie die Gesichter der Teilnehmer am Karneval in Venedig. Diese verstecken sich bekanntlich hinter wunderbaren Masken, um die eigene Identität zu verschleiern und in eine neue, geheimnisvolle Rolle schlüpfen.
Die Euro- und Schuldenkrise
Offensichtlich mangelbehaftet ist die Einheitswährung. Genauer gesagt: Die Teilnahmebedingungen am Euro wurden zum Teil von nationalen Regierungen erschlichen mit Betrügereien. Die damaligen Warnungen wurden überhört.
Die Eurokrise, ausgelöst durch Griechenland, ist die Folge ungetreuer Staatsführung und falscher politischer Entscheidungen. Letztere sind nicht rückgängig zu machen. Griechenland trickste mit seinem Haushaltbudgetdefizit, andere EU-Länder nicht minder mit dem Stabilitätspakt. Es wurde gelogen und gegen Auflagen verstossen.
Die Schuldenkrise aber, die die EU hartnäckig gefährdet, liegt nicht in Irland und Griechenland begründet. Portugal, Spanien, Zyprern, Italien, Frankreich – überall wird Wachstum durch Verschuldung erkauft. Inzwischen ist die EZB als unerschöpfliche Geldquelle der Jungbrunnen aller Problemländer. Ewig wird das allerdings kaum reichen.
Seit Monaten scheint Angela Merkel ihre Kollegen im Europäischen Rat zu dominieren. Die intelligente Physikerin ist diszipliniert, neugierig, wiss- und lernbegierig. Sie urteilt aufgrund von Fakten und ihre Argumentation ist rational nachvollziehbar. Doch sie will den Verlauf der Dinge kontrollieren, beeinflussen, lenken. Alles unter Kontrolle haben zu wollen ist eine wissenschaftliche Lehrmeinung, die gerade von ihrem Kollegen Robert Laughlin (Nobelpreisträger für Physik) als teilweise überholt und gefährlich betrachtet wird.
Einmal soll die Kanzlerin gesagt haben: „Wenn die Dinge am Anfang verquer sind, kann sich manches entwickeln, aber es wird nie wieder gut“. Was ist dann aber wohl bezüglich Euro ihr Ziel? Angesichts der Gründung einer Anti-Euro-Partei sogar in Deutschland, muss die Operation am schwerkranken Europatienten nach allen Regeln der Kunst sorgfältig geplant und durchgeführt werden, bevor der Patient überraschen stirbt und Chaos hinterlässt.
Denkalternativen
Leider kann sich der Europäische Rat nicht zu grundlegenden Reformen entschliessen. Der notwendige Schuldenerlass wird verdrängt oder auf später verschoben. Ein mögliches Szenario – der Staatsbankrott – wird ausgeschlossen. Warum eigentlich? Böse Zungen behaupten, weil dadurch die Grossbanken in Deutschland und Frankreich getroffen würden: Bestraft für ihre falschen Investitionen in staatliche Schuldscheine (mit verlockend hohen Zinsen). Die Zeitbombe tickt: Der Versuch, den Euro in der aktuellen Form aufrechtzuerhalten, ist brandgefährlich. Zu korrigieren, was ursprünglich falsch gelaufen ist, muss versucht werden. Schon heute gibt es ja EU-Mitgliedsländer ohne den Euro.
Der rigorose Sparkurs, der die EU den Südstaatenmitgliedern verschreibt, ist allein nicht zielführend. Er verschärft die Krise und vor allem: Er bestraft die Jugend, genau jene Generation, die nicht für das Debakel verantwortlich ist. Ihre Väter und Grossväter hüllen sich in Schweigen. Steckt zu viel Angst in der offiziellen Europapolitik? Ist der permanente Integrationsfortgang mittlerweile zum Dogma versteinert?
Nationalstaat versus EU
Die EU-Krise ist letztlich also eine Systemkrise. Zwischen dem schlecht ausbalancierten Verhältnis supranationaler Regelwerke und Versammlungen (Kommission, Parlament) und der Institution (Europäischer Rat), in der nationale Interessen, Befindlichkeiten und Fiktionen dominieren und diskret gepflegt werden, öffnet sich der Graben. Es besteht ein fundamentaler Zielkonflikt. Damit werden die Gründerideen der EU-Väter gefährdet. Immer weniger geeint, wirtschaftlich geschwächt, präsentiert sich die EU 2013. Zum grossen Glück friedlich.
Zukunftsvisionen
Ähnlich wie in vielen Ländern Europas (darunter der Schweiz), fehlt es vielen Politikerinnen und Politikern der EU an Zukunftsvisionen. Gerade jenes Gremium, dessen Aufgabe es primär wäre – der Europäische Rat -, ist eher vergleichbar mit einer Euro-Feuerwehr als mit einem Europa-Thinktank. Es fehlen Zeit und Durchblick für die Entwicklung von Zukunfts-Szenarien. Darin wären an erster Stelle die Grundwerte der EU aus der Versenkung zu hissen.
Seit anfangs 2013 fordert der britische Premierminister David Cameron unüberhörbar einen Umbau der EU: Mehr flexibles Netzwerk, weniger Blockstarre. Mehr gemeinsamer Markt, weniger zentralistische Reglementierung. Damit wäre eigentlich die Debatte um Zukunftsvisionen lanciert, sie müsste jetzt von Camerons Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat aufgenommen werden.Ist Europa nicht eine Landschaft der Regionen? Mit der Idee, dass eine moderne EU zwingend Teile der nationalen Souveränität nach Brüssel abzugeben hat, geht die Forderung, dass eine Vielzahl der heute dort fälschlicherweise angesiedelten Kompetenzen an die Regionen zurückgegeben würden. Zuviel wird in Brüssel geregelt, was regional weit sinnvoller und bürgernäher geschähe.
Das Nachdenken über die Zukunft Europas, die EU und die zentral platzierte Schweiz ist nicht jedermanns Sache. Der Fortbestand des nunmehr bald siebzig jährigen europäischen Friedens ist aber nicht Privatsache. Fragen zuhauf, die Antworten kennt wohl heute noch niemand.
Aus der aktuellen Krise kann sich eine bürgernahe europäische Vision entwickeln. Von unten nach oben, durch die betroffenen Menschen? Das Anhäufen von Schuldenbergen versperrt dem Europäischen Rat zurzeit die Sicht auf seine eigenen Hauptziele.