Seit einiger Zeit rufen einzelne Wissenschaftler und politische Aktivisten zum Sturm auf gegen den Kapitalismus. Ihre Argumente sind z.T. ideologisch, ihre Rezepte nicht immer zu Ende gedacht. Zudem basieren viele Arbeiten auf der Datenauswertung ihres jeweiligen Heimatlands und deren Universitäten (z.B. USA, Frankreich), und lassen sich nicht mit jenen der Schweiz vergleichen.
Guter und schlechter Kapitalismus
Wenn wir uns in einer ruhigen Stunde fragen, woher unser Wohlstand kommt, müssen wir akzeptieren, dass wir ihn dem «System» Kapitalismus verdanken. Charakteristisch ist hier, dass sich die Produktionsmittel in Privatbesitz befinden und Produktion und Konsum weitgehend über den Markt gesteuert werden sollen. Allerdings ist es längst systemimmanent, dass eben dieser Markt allein längst nicht in der Lage ist, alles zu steuern und entsprechende Erkenntnisse korrigierend einwirken.
Seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben in der Schweiz drei Generationen eine Phase der weitgehenden Vollbeschäftigung, der Wohlstandsvermehrung und steigender staatlicher Transferzahlungen die sozial ausgleichend wirken (z.B. AHV, Sozialfürsorge) durchlaufen. Unsere Sicherheit in Freiheit hängt eng zusammen mit den guten Erfahrungen, die wir mit dieser Gesellschaftsordnung gemacht haben.
Jedes System hat seine Stärken und Schwächen. So wird seit einiger Zeit z.B. die Wachstumsökonomie, die Steuervermeidungspolitik grosser Konzerne und Vermögen oder der Börsenkapitalismus kritisiert. Zu Recht. Doch ist wohl nicht abzustreiten, dass trotz einiger Mängel der Kapitalismus reichlich Früchte trägt. Und es ist wohl auch nicht abzustreiten, dass Alternativmodelle wie der Kommunismus/Sozialismus grandios gescheitert sind.
Die Kluft zwischen Arm und Reich
Die Ideologie der Ungleichheit ist gegenwärtig populär. Einer ihrer Vordenker ist Thomas Piketty (*1971), Wirtschaftsprofessor in Paris, der sich sehr erfolgreich des kapitalistischen Systems bedient, um seine Ideen zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich zu vermarkten. Seine spektakulären Buchauflagen sorgen für steigendes Privateinkommen, seine hervorragende Ausbildung genoss er an der Elitehochschule «École des Hautes Études en Siences Sociales» in Paris.
«Die neue soziale Regulierung des Kapitalismus» soll eine Ära der «Demokratisierung Europas» einleiten, wie er uns in seinem Manifest belehrt. Der Begriff «soziale Regulierung» hat allerdings – denkt man an die Zeiten vor dem Fall der Berliner-Mauer – einen definitiv schalen Nachgeschmack. Und: Wollen wir Ungleichheit (vielleicht) verringern oder den Wohlstand gefährden? Schon die spektakuläre Ankündigung «noch nie war die Ungleichheit so gross wie heute» - ist natürlich falsch. Wer geschichtlich über die letzten Jahrhunderte zurücksehen kann und will weiss, dass es jahrhundertelang viel, viel extremer war mit der Ungleichheit.
Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE)
Die auch in der Schweiz immer populärere Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle, um den Verlierern der Globalisierung oder den Corona-Virus-Opfern die Lebenssituation zu verbessern, scheint auf den ersten Blick verführerisch. Die angeführten Gründe haben einen grossen Fehler: Sie basieren mehrheitlich auf eigenen, national erhobenen Daten der Wissenschaftler und verkennen, dass es dafür nationale, historische Gründe gibt.
Frankreich ist eine von Paris aus zentralistisch gesteuerte Nation, deren Präsident Macron sogar für eine ähnliche Reform der Europäischen Union (Brüssel statt Paris) wirbt. Die Nachteile dieser aus unserer Sicht überholten Staatsform sind bekannt, die Regionen werden vernachlässigt. Genau das Gegenteil des Schweizerischen Föderalismus. Somit sind auch die schlechten wirtschaftlichen und sozialen Erfahrungen in Frankreich spezifisch und nicht vergleichbar mit den schweizerischen.
In den USA entwickelt sich eine bisher wohl nicht für möglich gehaltene Spaltung des Landes. Die Auswirkungen der Globalisierung (der Auslagerung ganzer Wirtschaftsteile nach China) sind katastrophal für einzelne Regionen. Da ist es tatsächlich erlaubt, von steigender Ungleichheit zu reden. Erschwerend kommt dazu, dass das Land auch politisch in zwei unversöhnliche Teile gespalten ist, deren Treiber in der Person des Präsidenten Donald Trump zu absurden Entwicklungen führt, die sich je länger je mehr als schwere Hypotheken für das Land selbst erweisen. Auch diese Situation ist nicht vergleichbar mit jener in der Schweiz.
Bei genauem Hinsehen können auch die Argumente anderer führender Köpfe der Bewegung BGE nicht als Vorbilder für ähnliche Vorhaben in unserem Land dienen: Guy Standing (Universität London), Aktivist für das bedingungslose Grundeinkommen, der die Verlierer der Globalisierung «das Prekariat» nennt. Rutger Bregmann (Niederlande) mit seinem Aufruf am WEF: «Damit die weniger Besitzenden selbstbestimmt leben können, braucht es die 15-Stunden-Woche mit Grundeinkommen.» Wer dafür bezahlen soll: Natürlich die Reichen (ZEIT).
Länder, die das Experiment des BGE ausprobiert haben, kamen durchwegs zu negativen Ergebnissen und brachen die Versuche ab. 2016 lehnten die Schweizer Stimmbürger und Stimmbürgerinnen in einer viel beachteten nationalen Abstimmung mit 78% Neinstimmen einen BGE-Versuch ab, in dem für Erwachsene 2500.--/Monat (Kinder 625..--) geplant waren.
Der Mensch tickt anders
Erfahrungen mit dem Sozialismus und Kommunismus haben bestätigt, dass die auf dem Papier entwickelten, intelligenten Konzepte (Karl Marx, Friedrich Engels) in der Praxis nicht zu den vorausgesagten Welt-Verbesserungen führten. Ist ein solches System erst einmal eingeführt, verhalten sich die Menschen anders «als wie sie sich sollten». Abgesehen davon, dass sich wohl viele Menschen nicht als unterstützungsbedürftig einschätzen, produktiv und eigenständig sein wollen, ist auch das Modell des BGE fehlerhaft: Der Staat soll ein garantiertes und existenzsicherndes Einkommen auszahlen, andere Leistungen wie Arbeitslosengeld, Kinderzulagen, Sozialhilfe fielen dafür weg (NZZ). Ohne das Dilemma «Woher soll das Geld kommen?» hier näher zu klären, stellen sich die Fragen: Was ist, wenn eine Person mit diesem Grundeinkommen nicht zurechtkommt? Wenn sie nach zwei Wochen kein Geld mehr hat und es kein Geld vom Sozialamt mehr gibt? Wenn sie mehr ausgibt, als sie einnimmt? Als ehemaliger Sozialvorstand meiner Gemeinde erlaube ich mir, diese praxisbezogenen Fragen zu stellen.
Vorbild DDR?
Die britische Historikerin Mary Fulbrook hat es unternommen, anlässlich eines Vortrags 2019 auf die Erinnerungen der verschiedenen Generationen in der DDR lebender Menschen hinzuweisen. Ältere Menschen, die ihr Leben – nach den Erfahrungen der Hitlerzeit – in der DDR als ganz passabel schilderten, unterscheiden sich fundamental von den jüngeren. «Diejenigen, die nach dem Krieg geboren wurden, wurden in der DDR aufgezogen. Sie waren die erste richtige „FDJ-Generation“. Es wurde ihnen viel versprochen; die Realität aber, als sie in den Siebzigern und Achtzigern erwachsen wurden, sah völlig anders aus. 1989 waren sie um die 40; ihre Familien hatten in den Wirtschaftskrisen der späten siebziger und achtziger Jahre gelitten; und sie selber fühlten sich bevormundet, enttäuscht, eingeschränkt.»
«Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nie wieder»
(Giuseppe Mazzini, Freiheitskämpfer)