Nicht zum ersten Mal wird in der Schweiz eine Illusion als Fortschritt verkauft. Jene Kreise, denen seit jeher die Erwerbsarbeit ein Dorn im Auge ist, plädieren neuerdings in Buchform für eine wohlklingende Utopie. Müller und Straub, die Verfasser, möchten die Schweiz befreien – von der Mühsal der täglichen Arbeit. Der Staat müsste lediglich jedem Erwachsenen mit Wohnsitz in unserem Land monatlich 2500 Franken überweisen. Und - schwupps – niemand, der nicht wollte, müsste mehr dem lästigen Geldverdienen nachgehen. So einfach ist das. Nur: Auf diese Art Befreiung von „Unterdrückung“, diese Erlösung vom Bösen, wir tun wohl gut daran, solchen Schalmeienklängen zu misstrauen.
Die Autoren schätzen die jährlichen Kosten für den Staat auf 200 Milliarden Franken, finanzierbar durch überflüssig gewordene Sozialversicherungen (?), ersetzte Erwerbseinkommen (?) und die Staatskasse. Für letztere wird nach dieser abenteuerlichen und generösen Budgetierung noch eine Zusatzbelastung von lediglich 2 Milliarden Franken (?) jährlich resultieren. Schon lange bevor diese Volksinitiative aufgegleist wird, streiten sich nun Befürworter und Gegner über Sinn und Zweck, Höhe und Finanzierbarkeit dieses Grundeinkommens.
Wenn Schreibtischtäter von humanistischem Grundanliegen träumen und Reissbrett-Skizzen einer befreiten Gesellschaft erstellen, wenn solche Theoretiker zu wissen meinen, was das Glück des Menschen ausmacht, muss die Alarmleuchte blinken. Mehr Realismus wäre wohltuend. Oder kennen Sie ein Beispiel, wo ein solcher Versuch in der Wirklichkeit die gewünschten Resultate erbracht hat? Die Umstrukturierung unserer Gesellschaft nach einem persönlichen Ideenkonzept, böse Zungen reden von einem geistigen Schnittmusterbogen - meines Wissens sind sie alle gescheitert. Diese Erlösungspropheten haben übersehen, dass sie es mit Menschen zu tun haben. Nicht die Details sollten diskutiert werden, sondern das Grundsätzliche. Das Prinzip der falschen Anreize. Das Unvorhersehbare der menschlichen Psyche. Wer auf rationale (also vernünftige) Reaktionen baut, hat weder menschliches Denken, noch Verhalten begriffen. Und da sind wir heute, im Gegensatz zu früheren Staatstheoretikern oder Philosophen, durch die neurologische Forschung bestens orientiert. Auch was arbeiten dürfen für den Menschen bedeutet, auch darüber haben wir inzwischen eine Ahnung.
Die Buchautoren versprechen uns mit ihrem anvisierten radikalen Systemwechsel eine Wirkung, ähnlich „der Abschaffung der Sklaverei“. Was wir da schwarz auf weiss zu lesen bekommen, ist erstaunlich. Fühlte ich mich in den letzten Jahrzehnten je als Sklave? Wissen die Autoren überhaupt, wovon sie sprechen? Spätestens jetzt hilft es, nachzulesen, worüber sich anerkannte Neurobiologen, Neuropsychoanalysten und Neuropsychologen, darunter Nobelpreisträger, längst einige sind: Unsere persönliche Wahrnehmung ist nicht abbildend, sondern selektiv und stark beschränkt, also konstruktiv. Unsere Vorstellungswelt ist ein persönliches, einzigartiges Konstrukt. Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind (letzteres allerdings ist eine uralte Einsicht). Von seiner eigenen, beschränkten Sicht der Welt darauf zu schliessen, was für alle Menschen richtig wäre – welch ein arrogantes, missionarisches oder völlig veraltetes Denkschema!
Der herbeigesehnte Paradigmenwechsel hat alte Wurzeln. Bereits vor 500 Jahren schrieb der englische Humanist Thomas Morus sein Buch „Utopia“ – ein äusserst treffender Buchtitel – und plädierte darin, allen Menschen den Lebensunterhalt zu bezahlen. Seine Motivation: Er wollte den Dieben das Handwerk legen. Heute wollen die Verfechter des fixen Grundeinkommens erneut den radikalen Systemwechsel. Was ist ihre Motivation? Sie orten den Produktivitätsdruck, den Alltagsstress als Ursachen allen Übels. Diese würden den Menschen zerschleissen. Und: „Sie werden nicht zufriedener, wenn sie noch mehr besitzen, sondern nur, wenn sie mehr Sinn sehen in dem, was sie machen.“1 Woher nehmen die Autoren ihre Gewissheit, dass arbeiten – sagen wir vor 50 oder 100 Jahren – nicht mit gewaltigem Produktivitätsdruck (Karl Marx lässt grüssen) oder erdrückendem Stress verbunden war? Da herrschen heute vergleichsweise paradiesische Zustände. Könnte es sein, dass der Job dort als Zerschleissfaktor empfunden wird, wo Erziehung, Umfeld, Selbstmitleid mit dem Ziel einer Spassgesellschaft so gar nicht passen wollen zur Realität des banalen Arbeitsalltags? Und die nächste Frage: Wären die Menschen denn zufriedener, wenn sie mehr Sinn sähen in dem, was sie tagsüber zu unternehmen gedächten? Etwa darin, dass „die Faulen endlich faul sein dürften“2, wie Endo Anaconda, der Berner Sänger, erfreut meint. Er hält Faulheit für eine Bedingung für Kreativität.
Das bedingungslose Grundeinkommen ist kein Bürgerrecht. Dagegen kennen wir in unserem Land das Recht auf Freiheit, verstanden seit jeher auch als möglichst grosse Freiheit von staatlichem Zwang. Freiheit ist nicht gratis zu haben.
1 DIE ZEIT No. 16 vom 12.4.2012: „Ausgearbeitet?“
2 TA, 16.3.2012: „Geld ohne Arbeit für alle.“