Zum Jahresbeginn prägten seltsame Themen die Schweizer Medien. Als gäbe es keine weltweiten Rezessionsszenarien, keine EU-Schuldenkrise oder keine blutigen Aufstände im arabischen Raum, wo täglich für Demokratie gestorben wird, drehte sich die mediale Berichterstattung um helvetisch geprägte Hexenjagden, Komplotte, konstruierte Insidergeschichten und abgekartete Verschwörungsszenarien. Dabei wurde mit Schrot geschossen im Wissen, dass damit irgendwann immer getroffen wird. In der Alpenrepublik dominierten die eifrigen Selbstgerechten, Moralisten. und …. ihr Chef-Ideologe.
Er bestimmte während Wochen den medialen Tagesbefehl. Ein begnadeter Mythen- und Märchenerzähler – der, entlarvenderweise, die Lüge als ein legitimes Mittel in der Politik bezeichnet, sich aber gleichzeitig über den Zerfall der Sitten im Land beschwert - hat zu einem Rundumschlag ausgeholt und gebannt hörten wir hypnotisiert auf mehr oder weniger belanglose Nebensächlichkeiten aus der Gerüchteküche jener Wochenzeitschrift, in der ein Engel seine phantastische Kunde verbreitet. Letzterer bezeichnete eine geachtete Person in verantwortungsvoller Position als Gauner und Lügner. Es war ein weiteres Kapitel in der Verbreitung einer Ideologie klassischen Zuschnitts durch den „Führer“ und seine Gefolgschaft. Der Duden definiert „Ideologie“ so: Politische Theorie, in der Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen, auch faschistische, kommunistische, weltfremde.
Gegen Ideologien wehrte sich Sir Karl Popper1 schon im letzten Jahrhundert. Seine analytische Kritik an Ideologien2 und deren Zielsetzungen ist unvergessen und brandaktuell. Ideologien sind angefüllt mit Dogmatismus, Behauptungen absoluter Wahrheiten, Verschwörungstheorien, utopischen Harmonieidealen, zeigen eine Tendenz zur Immunisierung gegen Kritik und zu Behauptungen von Werturteilen als Tatsachen zufolge einer verblendeten Wahrnehmung der Realität. Genau eine solche „Tatsache“ wurde auch diesmal konstruiert.
In seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, kritisiert Popper den Charakter bestimmter Ideologien: Bei ihrem umfassenden Wahrheitsanspruch weisen sie oftmals Elemente von Mythenbildung, Geschichtsklitterung, Wahrheitsverleugnung und Diskriminierung von konkurrierenden Vorstellungen auf. Popper macht nie einen Hehl an seiner Skepsis gegenüber umfassenden und mit Heilsversprechungen durchsetzten Theoriegebäuden, insbesondere, wenn diese mit Handlungsaufforderungen oder mit der Unterdrückung abweichender Ideen verbunden sind.
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz sieht eine der grossen Gefahren 2012 auf beiden Seiten des Atlantiks im Umstand, „dass Politik und Ideologie nicht zulassen werden, dass höhere Steuern und Staatsausgaben eines ausgeglichenen Haushalts die Arbeitslosenzahl senken und die Wirtschaftsleistung erhöhen würden.“3
Ideologen prägen die politischen Diskussionen, dort und hier. Sie missbrauchen die Medien, je mehr davon sie finanziell kontrollieren, desto einfacher lässt sich das erreichen. Wenn hier ein Hauptziel der aus dem Hintergrund gesteuerten Attacken im verbissenen Kampf gegen die Institutionen4 darin liegt, diese zu schwächen, sollten wir aufwachen. Zielscheiben des beschriebenen hinterhältigen Spiels sind ja bekanntlich seit langer Zeit die unabhängige Schweizer Justiz, die autonome Nationalbank, der verantwortungsbewusste Bundesrat. Es stellt sich drängend die Frage: Warum fühlt sich jemand berufen, solchermassen zu intrigieren? Was sind seine persönlichen Ziele?
Aus der Gehirnforschung und der Linguistik lernen wir, dass „in der politischen Propaganda „Frames“5 zur Manipulation eingesetzt werden, um behauptete Gegebenheiten, von denen man weiss, dass sie nicht wahr sind, der Öffentlichkeit als Wahrheiten zu verkaufen.“6 Ein solcher Frame wäre zum Beispiel „die da oben“, um den Bundesrat permanent zu verunglimpfen. Mit stimmigen „Frames“ können geschickte Taktiker das Publikum auch darüber hinwegtäuschen, was in Tat und Wahrheit ihr wirkliches Ziel ist. Man kreiert das Bild eines „Lügners“ und kaschiert die Absicht: (in diesem Fall) Stärkung der Hochfinanzbranche.
Eine weitere mögliche Antwort: Wo kein rechtlicher Grund gefunden werden kann, weil Recht nicht gebrochen wurde, wird eine Kampagne konstruiert. Die massive Instrumentalisierung für unlautere Zwecke dieser Art „Aufklärung“ ist ganz einfach unappetitlich, unehrlich, unschweizerisch. Die politische Kultur, auf die wir ja in unserem kleinen Land so stolz sind, geht dabei vor die Hunde. Wir sind fassungslos.
„Illusionen hingegen rächen sich, weil man Anpassungen an die sich verändernde Welt verschläft“, war kürzlich in einem anderen, angesehenen Wochenmagazin zu lesen. Und: „In der Schweiz sind die politischen Vorstellungen stark von den Erfahrungen der Nachkriegsjahrzehnte geprägt. Sie liefern den Massstab für das, was wir als vernünftige empfinden, dabei haben sie sich weitgehend überlebt.“7 Gemeint war damals, im Dezember 2011, die instrumentalisierte Mythenpflege in Sachen gebrochener Konkordanz, imaginärer Autonomie und gefährdeter Freiheit. Damals, wie heute, ziehen hinter den Kulissen die gleichen Leute die Fäden: Ideologen.
Ein absurdes Theater ist im Gang. Realisieren wir das?
Märchen, Ideologien, Illusionen – Moralisten auf Rachefeldzügen, die Hinterzimmer-Intrigen aushecken – die tägliche mediale, seitenlange Abdeckung eines inszenierten „Kreuzzugs“, hinterlässt nur noch Kopfschütteln. Doch wir sollten gewarnt sein. Wir wollen keine Verhältnisse wie in den Staaten, wo eine kleine Klasse von Oligarchen die Gesellschaft für den persönlichen Machterhalt auseinanderdividiert.
Die Schweiz braucht keine Ideologen.
1 Karl R. Popper (1902 – 1994), österreichisch-britischer Philosoph.
2 Karl R. Popper: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, (1957), Francke.
3 Handelszeitung Nr. 3, 19.1.2012: Weltkonjunktur – Das Jahr der grossen Gefahren, Joseph E. Stiglitz, Columbia University.
4 Schweizerische Institutionen: z.B. Schweizerische Nationalbank (SNB), Bundesrat, SRG, SF, SUVA. Internationale Institutionen: z.B. Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank.
5 „Frames“: im übertragenen Sinn (Sprachbilder-) „Rahmen“, in welchem Botschaften transportiert werden.
6 George Lakoff / Elisabeth Wehling: „Auf leisen Sohlen ins Gehirn – Politische Sprache und ihre heimliche Macht“, (2009), Carl-Auer.
7 Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Zürich.