Fokussieren wir uns hier auf die „alten“, westlichen Industrienationen. Frau Merkel sagt: „Europa braucht mehr Wirtschaftswachstum“. „Die Wachstumsraten unserer Volkswirtschaft müssen wieder steigen“, doppelt der Kanzlerkandidat Steinbrück nach. Finanzkrise, Eurokrise, Schuldenkrise – der Refrain lautet: mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Wachstum! Doch damit die Wirtschaft wächst, muss irgendjemand all die neuen Waren kaufen. Irgendjemand – und wenn dieser Phantommensch in vielen westlichen Wohlstandsländern schon alles – oder zu wenig Geld - hat? Auch der persönliche Vorzeigestatus als Intelligenzersatz ist irgendwann einmal gesättigt. „Wir brauchen die Einwanderung in der Schweiz, sie trägt zum Wachstum der Wirtschaft bei“, und: „die Vorteile der Öffnung des Arbeitsmarktes müssen der Bevölkerung besser erklärt werden“, rät der ehemalige Direktor des Arbeitgeberverbandes. „Es ist zu hoffen, dass sich Europa endlich aus seinem Wachstumsstau lösen wird“, rät der Asienkenner der NZZ.
Und die Nachteile? Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit. Sind wir gar auf einem Auge blind? Ein Schweizer Autor riet seinen Landsleuten zum 1. August 2012 „die zwingende Überzeugung, dass ohne den Kraftakt zur Wachstumssteigerung der vermeintlich sichere Besitzstand bedroht ist“, müsse gestärkt werden. Guter Rat in dieser verzwickten Situation ist offensichtlich teuer und entpuppt sich ab und zu gar als Beipackzettel eines verwechselten Medikamentes.
Wachstum – ein natürliches Phänomen?
Samuel Rutz und Gerhard Schwarz schrieben in der NZZ (22.7.2013) „der langfristig wichtigste Wachstumstreiber ist der technische Fortschritt und schon deshalb ist eine Null-Wachstumsgesellschaft realitätsfremd, weil der sich nicht unterbinden lässt“. Diese etwas antiquierte Meinung darf man natürlich vertreten, doch, ist der wichtigste Wachstumstreiber wohl eher in weltweitem Bevölkerungswachstum und zeitgenössischem Mobilitätsdrang zu suchen? Als Rezept der beiden Autoren für die beste Wachstumspolitik lesen wir, dass „die Beseitigung aller das Wachstum und das Unternehmertum behindernden Regulierungen“ nach wie vor Gültigkeit habe. Ob die Herren da die Folgen des vom Neoliberalismus geprägten Bankensektors und dessen seit 2008 weltweit verspürten „Finanztsunami“ schon vergessen haben?
Die zwei Seiten der Medaille
Wirtschaftswachstum als Verheissung des Paradieses ist nur die eine Seite der Medaille. Sie glänzt in der Sonne, sie widerspiegelt die vermeintliche Lösung eines der wichtigsten Probleme unserer Wohlstandsdemokratien. Es scheint, als ob sich Europas und Amerikas Mächtige alle einig wären: „Nur Wachstumsprogramme können die explodierende Arbeitslosigkeit eindämmen und verhindern, dass nicht ganze Länder kollektiv in der Rezession versinken“. Dazu werden die Märkte geflutet mit Geld, das laufend gedruckt wird. Heute ist heute, Inflation ist morgen…
Die Rückseite der Medaille liegt im Dunkeln. Der heutige Kapitalismus beschert uns Umweltschäden und Schulden, neben Anspruchsmentalität und Wohlstand.
Wirtschaft ohne Wachstum?
Auch wenn in Bonn, Brüssel oder Washington D.C. in den Tagesagenden der hohen Verantwortungsträger das Traktandum fehlt, es ist drängend: Wie könnte eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren? Könnte sie überhaupt? Diese und ähnliche Fragen sollten wir uns heute stellen. Stellvertretend für Kollegen aus aller Welt erinnert der kanadische Ökonom William Rees an diese Binsenwahrheit: Unser Globus ist rund und endlich. Die Wirtschaft ist ein Teil dieser begrenzten Welt. Die seit Jahren steil nach oben weisende, nicht enden wollende Wachstumskurve ist nicht nachhaltig und sie beruht auf einer falschen Annahme. In einer endlichen Welt könne kein Subsystem unendlich wachsen, meint er, der seit Jahren forscht. Postwachstumswirtschaft – steady state economy – heisst diese Disziplin, Postwachstumsdenken wird gelehrt. Postwachstumsökonomen gibt es mittlerweile auch in Deutschland und Frankreich; in der Schweiz war Hans Christoph Binswanger (Uni St. Gallen) bis zu seiner Emeritierung ein Pionier der ersten Stunde, vorrangig damit beschäftigt, einen möglichen Umbau des Finanzmarktes zu bewirken.
Tomas Sedlacek, tschechischer Ökonomieprofessor, einem breiteren Publikum seit 2012 bekannt durch sein Buch „Die Ökonomie von GUT und BÖSE“, schrieb darin: „Wir müssen das generelle Ziel der Wirtschaftspolitik ändern – statt MaxGDP muss es MinDebt heissen, statt Maximierung des BIP – Minimierung der Schulden“. Das unumstrittene Mantra unserer Generation war „MaxGrowth (Maximierung des Wachstums um jeden Preis (Schulden, Überhitzung, Arbeitsüberlastung)“. Das heisst wohl, dass wir uns allen vernünftigere Ziele setzen sollten.
Am Fusse des Monte Verità in Ascona führten drei grosse Denker im Frühling 2013 ein Gespräch zu Utopien. Sedlacek, einer der Teilnehmer, (neben John Gray und Nassim Nicholas Taleb): „Wir müssen nicht den Menschen ändern, sondern die ökonomischen Theorien, die sein Verhalten angeblich abbilden, es in Wahrheit jedoch konditionieren. Die Ökonomie ist zu einem Fetisch geworden. Die Utopie von heute ist ständiges Wachstum. Das ständige Wachstum hat mittlerweile die Züge eines religiösen Glaubens angenommen“ (Schweizer Monate, Ausgabe 1008).
Herausforderung der Stunde
Ökonomen, Politiker, ja die ganze Gesellschaft, wir sind alle gefordert. An erster Stelle wohl die Ökonomen, jene an den Universitäten und jene im Tagesgeschäft involvierten. Nicht wenige von ihnen ignorierten gerne das Thema Stagnation des Wirtschaftswachstums ganz nach dem Motto: Was nicht sein kann, darf nicht sein. Menschen ändern ungern ihre Meinungen, das ist bekannt. „Instinktfalle“ nennen das die Neurologen. Wir tendieren dazu, bei unseren alten Meinungen zu verharren, auch wenn viele neue Faktoren dagegen sprechen. Da sind die Exponenten der Finanzindustrie gefordert. Diese funktionierte in den letzten Jahrzehnten nicht rational, wie man uns weismachen wollte, eher verstieg sich dieser Zweig der Nationalökonomie in längst überwunden geglaubte Sphären. Sie mutierte zurück zu einer Art Religion (religio = zurück) – einem Weltbild des Mittelalters. In den Himmel kommen ihre Gefolgsleute allerdings nicht.
Halten wir uns vor Augen: Zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1820 ist das Durchschnittseinkommen der Menschen nur um die Hälfte gestiegen. Ein Wachstum in dieser Grösse haben wir in einigen europäischen Ländern, darunter der Schweiz, in den vergangenen 25 Jahren realisiert. Dieses enorme Wachstum beruht auch auf einem hohen Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Fragen, die alle angehen
Wird das Wirtschaftswachstum der Zukunft aus anderen Quellen alimentiert werden? Ein wichtiger Rohstoff ist Wissen. Im Gegensatz zu anderen Ressourcen ist Wissen nicht endlich. Wenn wir heute nicht wissen, worin zukünftige Lösungen bestehen werden: Die Forschung nach - zumindest weniger ökologisch belastenden Impulsen - beruht auf einer Denkwende und diese auf neuem Wissen.
Für unser Land im speziellen stellt sich die Frage, ob und wie lange wir die Zuwanderung als eine Art Perpetuum mobile verstehen, einem einlullenden Konstrukt Wachstum generierenden Wohlstandstreibers. Ein Dilemma, das wir nicht gedankenlos der nächsten Generation überlassen sollten. Vorerst halten Illusionen die Motivation für Wachstum – dem Doping unserer Zeit - aufrecht und gleichzeitig den gut geschmierten Wachstumsmotor im Gang. Sind Illusionen einmal verflogen, kommen sie nicht wieder.
Peter Sloterdijk meinte 2011, dass wir weltweit der Frage nachzugehen hätten, wie die Leerformel vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum, diese Wunsch-Praktiken auf der Basis der modernen Ökonomie, mit dem Überleben der Gattung auf dem Planeten verträglich wären.
Wir sind alle gefordert. Nachdenken ist nicht umweltbelastend und nicht Bestandteil des Bruttosozialprodukts. Trotzdem ist nur die Gesellschaft als Ganzes in der Lage, eine Trend- und Denkwende zu bewirken.