Nationalkonservative Kreise in der Schweiz liebäugeln immer mal wieder mit rückwärtsgewandten, misslichen Ideen. Fühlen sie sich bedroht durch das globale IT-Tempo, das – so ahnen sie – ihr statisches Verhalten gefährden könnte? Deshalb fordern sie „Sicherheit, Freiheit, Unabhängigkeit“. Diesen symbolkräftigen Begriffen stimmen sie gerne zu, wenn sie vor den Kulissen der Rütliwiese definiert sind: Heroisch kämpfend gegen die ausländischen Vögte, zum Beispiel. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Schon vor 2500 Jahren schief gelaufen
Der geschichtliche Rückblick in jene einmalige Zeit der alten Griechen vor 2500 Jahren ist hochspannend und informativ. Er steht – einst und jetzt – für einen epochalen Neubeginn. Damals, als die grossartigen Neu-Denker in Athen „die Götter vom Himmel holten“ und eine erste, kleine Globalisierung im Mittelmeerraum versuchten. Sind jene turbulenten Zeiten irgendwie vergleichbar mit heute?
Bertrand Russel (1872 - 1970), analytischer Philosoph, verstand es vorzüglich, anschauliche Bilder vergangener Ereignisse zu „malen“. Für uns in der Schweiz ist die Instrumentalisierung ferner Geschichtsbilder insofern spannend, als sie überraschende Erkenntnisse liefern können. Andere, als jene der wortgewaltigen, älteren und jüngeren „Endlich-Sicherheit“-Verkäufer, die ihre Weltbilder z.B. in der Weltwoche zu vermarkten versuchen. Was ist gemeint?Russel: „Diese Haltung der Abkapselung (Isolation) in politischen Dingen ist letzten Endes auch die tiefste Ursache für die Unfähigkeit der griechischen Welt, einen lebensfähigen, grösseren Staatenbund zu schaffen. Die Art des politischen Lebens, die den Griechen vorschwebte, war statisch, während die Welt um sie herum sich in schnellem Wandel befand.“Kleinlicher Konservativismus
Versuchen wir uns Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. vorzustellen, können wir bei jenem umfangreichen Meteorstück einsetzen, das eines Tages vom Himmel fiel und den Philosophen Anaxagoras zur Vermutung führte, die Sterne bestünden aus glühenden Steinen. Der Aufklärer befasste sich u.a. auch mit wissenschaftlichen Fragen, seiner Antworten wegen wurde ihm vom Establishment Gottlosigkeit vorgeworfen. Tatsächlich erregte er nicht selten „den bösen Willen des kleinlichen Athener Konservativismus“.
Russel meint weiter dazu: „Unabhängiges und missliebiges Denken ist auch in besten Zeiten ein misslich Ding. Und wenn es sich gar gegen die frommen Vorurteile derer richtet, die sich einbilden, am besten Bescheid zu wissen, dann kann es wirklich gefährlich für den Nichtkonformisten sein.“ Die Hauptschwäche in der politischen Denkart der Griechen war, immer gemäss Russel, also das statische Verharren tonangebender Politiker bei der Beurteilung der politischen Lage.Dank seines Freundes Perikles‘ Einfluss entging Anaxagoras der Todesstrafe und musste „nur“ ins Exil. Dass sich Anaxagoras als Mathematiker schon damals mit dem Problem der Quadratur des Kreises befasste, hat in unserem Zusammenhang einigen symbolischen Charakter. Und mit „in den besten Zeiten“ meinte Russel wohl die Gegenwart in der er lebte. „Beste Zeiten“ haben wir auch heute…Unabhängiges Denken
Unabhängig zu denken lernt man wohl nicht in der Schule. Es braucht dazu eine Portion Anstrengung und Selbstsicherheit. Immerhin besteht Einigkeit darüber, dass akademische Institutionen ihrer Aufgabe in dem Mass gerecht werden, als sie unabhängiges Denken fördern. Ausgesprochen karrierefördernd ist es in der Wirtschaft auch heute nicht. Was die Politik betrifft, ist eine Tendenz der Gleichschaltung der Kommunikation nach aussen vor allem bei der SVP offensichtlich. Die gleiche Wortwahl, dieselben Vorurteile, identische Wortklaubereien.
Russel äussert sich aus seiner Sicht des letzten Jahrhunderts wie folgt: „denn wo unabhängiges Denken abstirbt, ob aus Mangel an Mut oder durch innere Zuchtlosigkeit, wuchern ungehindert die üblen Unkräuter der Propaganda und des Dogmatismus“.„Operation Libero“
Zurück im 21. Jahrhundert bescherte uns die DSI-Abstimmung vom 28. Februar 2016 eine für schweizerische Verhältnisse gewaltige Überraschung. Nach Jahren der schlafwandelnden Zivilgesellschaft fegte ein „Lothar“ durchs Schweizerland und knickte reihenweise alte, morsche Bäume im Wald der einheimischen Isolationisten und Propagandisten. Eine engagierte Truppe intelligenter Studentinnen und Studenten war aufgebrochen, um jene „Initiative als Systemgefährdung, als Trojanisches Pferd einer Partei zu enttarnen, die sie für verlogen hält“ (DAS MAGAZIN 09/2016). Statt Angst im Volk zu schüren, bewirkte die eklatante Furchtlosigkeit dieser Jungen ein europaweit beachtetes Abstimmungsresultat, bei dem diesmal eine eindrückliche, statt hauchdünne Mehrheit für mutigen Aufstand statt statischem Stillstand votiert hatte. Es ist daher jetzt legitim, davon zu reden, „das Volk hat entschieden“. Besonders erfreulich: unabhängiges Denken ist nicht ausgestorben.
Kleiner statt Blocher, hiess es jetzt. Die 24-jährige Freiburger-Geschichtsstudentin Flavia Kleiner als Co-Präsidentin zusammen mit Dominik Elser, sechs weiteren Exekutivmitgliedern und einer Handvoll Kolleginnen und Kollegen hatten einige Monate vor der Abstimmung ein Manifest verfasst, liberal, der Zukunft zugewandt. „Operation Libero“ als Brand kreierte übrigens Nicola Forster, „foraus“-Gründer (unabhängiger Thinktank zur Aussenpolitik). foraus, nicht zu verwechseln mit fürauns.Im Rückblick darf man sich fragen, ob das verzagte politische Parteiestablishment der gegnerischen Kampagneleiter, die Art ihres politischen Dankens, zu statisch war? Jedenfalls hätte ohne das Eingreifen dieser politisch völlig unerfahrenen Liberas und Liberos ein anderes Abstimmungsergebnis resultieren können.Schweizerische Zeitenwende?
Aus dem Humus der schweizerischen Zivilgesellschaft hat sich wenige Monate vor der Abstimmung ein erfreuliches Aufkeimen neuer Arten manifestiert. Auch Wissenschaftler, Wirtschaftsführer, Dozenten haben sich zusammengerauft und exponiert, nachdem gut drei Monate vor der DSI-Abstimmung eine Umfrage 66 Prozent Zustimmung ergeben hatte. Diese desaströse Ausgangslage hat sie wohl wachgerüttelt, denn natürlich hätten sie die Konsequenzen eines JA auszubaden gehabt. Dies war allerdings schon bei früheren Abstimmungen so, ohne dass der Weckruf geblasen worden wäre.
Einigermassen perplex liess dieses Abstimmungswunder wohl das nationalkonservative „Trio Grande“ (Blocher, Tettamanti, Hummler, Köppel) der Medienfinanciers und dessen wichtigstem Sprachrohr zurück. Ihnen, die wie üblich mit hohem finanziellem und rechtspopulistisch-sprachakrobatischem Aufwand ihre eigenen und andere Medien mit altbewährten Parolen geflutet hatten, blieb erstmals das Nachsehen.Die Justizministerin freute das Resultat – der NZZ stiess Sommarugas Umarmung der Kampagneleiterin Kleiner allerdings sauer auf. Es erstaunt einigermassen, wie das gleiche Blatt die Bewegung „von unten“ klein zu reden versucht. Solche direktdemokratische Aufbrüche aus der liberalen Mitte der Zivilgesellschaft müssten doch bei einer - liberalen Ideen verpflichteten - Zeitung Freude auslösen?
Engagiert statt gleichgültig
Signalisiert dieses neue Einmischungsbedürfnis eine Zeitwende? Die Analyse des Verhaltens der Abstimmenden ergibt, dass etwa gleichviele Befürworter der Initiative wie bei der Ausschaffungsinitiative von 2010 erneut ein JA einlegten (damals 1,398 Mio. und diesmal 1,375 Mio. Stimmen). Sie hatten ihre Meinung also nicht geändert. Somit kann daraus geschlossen werden, dass ein Teil der damals Abwesenden sich diesmal mobilisiert liess, was zur ausserordentlich hohen Stimmbeteiligung von 63.4 Prozent führte. In genauen Zahlen: damals 1,243 Mio. NEIN-Stimmen, diesmal 1,967 Mio.Der Lichtblick für die Zukunft: nicht mehr die Abwesenden (les absents ont toujours tort…) bestimmen die Zukunft des Landes, sondern die Involvierten. Auch dazu die Zahlen: damals blieben 1,929 Mio. Stimmberechtigte den Urnen fern, diesmal nur 1,260 Mio.). Aufbruch statt Verharren. Sachliche Argumente statt ideologische Parolen. Kleiner statt Köppel.
Progressive Bewegungen ersetzen politische Parteien
Längst ist bekannt, dass viele Jugendliche mit den starren Parteistrukturen und den „Ochsentouren“ für ambitionierte, oft aufmüpfige junge Parteimitglieder, nichts mehr anzufangen wissen. Es ist nicht auszuschliessen, dass nach dem Muster „foraus“ und „Operation Libero“ zukünftig weitere spontane Denkfabriken eine neue Kategorie des Volkes repräsentieren werden. Online-Kampagnen sind ihr Kapital. Die sozialen Medien ihr Parkett (anstelle des Albisgütlis). Mut ihre Ressource. Ein grosser Vorteil gegenüber etablierten Parteien ist ihr spontanes, wenig strukturiertes Agieren. Der übermässige Einfluss von oben, vom Parteipräsidium, ist für sie unerwünschtes Umklammern. Das Volk, das immer Recht hat, erwacht zu neuem Leben. Fokus: vorwärts statt rückwärts.
Nationalkonservative Isolationisten und ihre Medien wurden erstmals seit 30 Jahren durch Liberas und Liberos herausgefordert und auf eigenem Platz besiegt
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„Mehr Einmischung, bitte“, von Christoph Zollinger (13.9.2015)
Literatur:
Bertrand Russel: „Denker des Abendlandes“, (1. Auflage 1945)