Kritik prasselt von allen Seiten auf unsere Volksschulen herab. Seit Pädagogen gar fordern, Lernen müsse Spass bereiten, verstehen immer mehr Eltern und um das Image der Schweizer Volksschule besorgte Menschen diese pädagogische Welt nicht mehr. Hiess es doch früher: Lerne – wenn du es einst zu etwas bringen willst – lerne rechnen, lesen, fehlerfrei schreiben.
Einst und jetzt
Zugegeben: Rechnen übernimmt heute das Handy, Fehler beim Scheiben korrigiert der Computer in Sekundenschnelle. Lesen, ja lesen sollte der Mensch noch selber können. Allerdings beklagen Arbeitgeber, dass Kinder nicht nur schlechter rechnen – auch ihre Lesekompetenz hätte stark nachgelassen. Was ist hier los? Läuft gar etwas prinzipiell falsch in unseren Schulhäusern?
Es läuft zumindest anders. Zuhause täglich zu üben, was in der Schule gelernt wurde, ist durch das Gebot ersetzt worden, jeglichen Druck auf die Schülerinnen und Schüler zu vermeiden. Das Resultat: Gemäss der neuesten Pisa-Studie waren noch nie so viele Schweizer Schülerinnen und Schüler beim Lesen eines Textes schlicht überfordert. Pro memoria: Die Schweiz verfügt über das teuerste Bildungswesen im ganzen OECD-Raum. Dennoch erreicht rund ein Viertel der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler die grundlegenden Kompetenzen im Lesen nicht. Im Rechnen ist es rund ein Fünftel.
Integratives Schulsystem
Eingeführt wurde das integrative Schulsystem mit dem Ziel, jegliche Diskrimination an der Schule zu vermeiden und gleichzeitig die Chancengleichheit aller Kinder zu fördern. Wir erinnern uns: Früher wurden jene Schülerinnen und Schüler, die in ihren Klassen überfordert und deshalb schlecht benotet waren, in Sonderklassen (z.B. 7. und 8. Klasse statt Sekundarschule) verlegt. Gerechterweise muss dazu gesagt werden, dass diese «schlechten» Schülerinnen und Schüler im späteren Berufsleben nicht selten grossartig reüssierten – sie waren eben nicht «schulintelligent» gewesen, hatten sich im Schulunterricht gelangweilt oder erst später «den Knopf aufgetan».
Jene Praxis wurde von Fachleuten der Pädagogik kritisiert, Sonderschulklassen wurden abgeschafft, alle Kinder landeten wieder in ein und derselben Regelklasse. Mit dem Resultat, dass z.B. verhaltensauffällige Kinder die andern störten. Zwar war die Chancengleichheit gewahrt, doch das Leistungsniveau sank, die Unruhe und Ablenkung in den Klassen stieg.
Jetzt kann man sich fragen: War das alte, während über 100 Jahren erprobte System so falsch nicht? Sind die theoretische Schaffung von Chancengleichheit und Vermeidung von Diskriminierung wichtiger als die guten alten, praxisnahen Bildungsziele?
Fakt ist: Wer sich in Lehrerkreisen oder bei praxisnahen Politikerinnen und Politikern, verantwortlich für das Bildungswesen, informiert, hört zunehmend Kritik: Die integrierte Schule verringert den Lernerfolg, überfordert die Lehrerschaft, sie ist schlicht gescheitert, das System funktioniert nicht. Böswillige Frage des Nicht-Pädagogik-Fachmanns: Wie lange wird es dauern, bis eine fehlgeschlagene Reform korrigiert wird?
Frühfranzösisch – oui ou non?
Ein weiterer Diskussionspunkt im Schulbereich ist der frühe Fremdsprachenunterricht, auch das ein ehemals «progressives» Reformprojekt – wie sich jetzt zeigt, ein zu theoretisches. Wer akzeptiert, dass sich die Wissensvermittlung für Schulen generell ausgeweitet hat (Digitalisierung, Ökologie, Nachhaltigkeit), dass Fremdsprachenkenntnis in der globalisierten Welt wichtig ist, und davon ableitet, wir in der Deutschschweiz hätten in der Schule möglichst früh auch Französisch zu büffeln, liegt offensichtlich falsch.
Wer zudem versucht, das Lernen einer Fremdsprache unter den heutigen, trendigen Bedingungen – Vermeidung von Druck und Drill – zu vermitteln, scheitert offensichtlich. Zu früh, sagt das Lehrpersonal, und: das falsche System. Aussenstehende, vielleicht waren sie auch einmal Eltern von Schulkindern, meinen trocken: Ohne repetitives Üben geht da gar nichts – das hochgelobte Immersionslernen basiert auf einem Missverständnis. In eine neue Sprache einzutauchen, wie man es bei einem Aufenthalt im entsprechenden Sprachgebiet automatisch macht, funktioniert im Fremdsprachenunterricht an der Schule eben nicht. Ein paar Stunden wöchentlich ist kein «Welschlandjahr» bei einer Gastfamilie.
Die Schule soll den Kindern das Lernen lehren
Einer gutgemeinten pädagogischen Idee folgend hiess es plötzlich da und dort: «Schreibe, wie du es hörst!» Dahinter steckt die Ideologie, den Kindern weniger Regeln überzustülpen, denn das untergrabe ihre Kreativität. So beschreibt es der Hirnforscher Michael Skeide am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (NZZ am Sonntag). Trocken meint er: «Das klingt plausibel, ist aber falsch.» Schreiben braucht Regeln, Kinder werden dadurch nicht unkreativ. Im Gegenteil: Je früher sich Kinder Bücher schnappen und sich ins Lesen vertiefen, desto besser ist es für die Entwicklung der Fantasie und das Vorstellungsvermögen. Da erinnern wir uns der alten Regel: Wer interessiert ist, trainiert seine Intelligenz. Das ist der Motor zum Lernen.
«An den Schulen wird zu wenig geübt», bestätigt auch Esther Ziegler, früher selbst Primarlehrerin, heute doktorierte Lehr- und Lernforscherin (NZZ am Sonntag). Wenn das Leistungsniveau an unseren Schulen in den letzten 30 Jahren kontinuierlich gesunken ist, liegt es daran, dass die Grundlagen in Deutsch und Mathematik weniger im Zentrum stehen als früher – «Es wird zu wenig geübt!» Den Lehrpersonen darf jedoch an dieser Entwicklung kein Vorwurf gemacht werden, denn der Geist, der an den pädagogischen Hochschulen herrscht, sagt: weniger korrigieren, weniger vorzeigen, weniger erklären, weniger Frontalunterricht.
Kinder wollen nicht primär lernen, sondern die Aufgaben erledigen. Doch aus der Hirnforschung wissen wir klipp und klar: Lernen muss systematisch aufgebaut und repetitiv erfolgen und dazu brauchen die Kinder Anleitung.
Frage des Autors dieses Beitrags: Brauchen unsere Volksschulen gar eine Reform der Reformen?